Industriekletterer (m/w/d)
Sag nicht Spiderman zu mir
Industriekletterer sind disziplinierte Schwerarbeiter
Sie steigen im Seil auf unsichtbaren Treppenstufen bis unter die Decke des Foyers. Auf meterlangen Leitern klettern sie flink durch den Raum. Wie Spinnen lassen sie sich wieder herab. Doch statt glitzernder Artistenkostüme tragen die Höhenarbeiter Latzhose und Helm. Kein Tusch. An ihren Gurten klingeln Karabinerhaken und Steigklammern. Das Ziel dieses Werktages ist profan: Die gläsernen Wände des Ufa-Palastes in Dresden und die Metallkonstruktion im Foyer sollen so sauber blitzen wie am Tag der Eröffnung. In zwanzig Meter Höhe putzt Tobias Passek eine Reihe langer Metallstäbe. „Putzen vom Seil aus fühlt sich komplett anders an als am Boden“, erzählt er später. „Beugt man sich einen Zentimeter zu weit nach rechts oder links, kippen die Beine nach oben.“ Oops! Die Reinigung des Ufa-Palastes war Neuland für den fünfundzwanzigjährigen Dachdecker. Aber lernbereit und -fähig muss sein, wer das Probehalbjahr im Team der „Bergsteiger am Bau“ bestehen will. Das Dienstleistungsspektrum der DiBaB – so verkürzen sich „die Bergsteiger am Bau“ – ist weit gefächert. Es umfasst alle Arbeiten, die an hohen, schwer zugänglichen Orten erledigt werden müssen. Fassaden und Schornsteine werden verputzt, begrünt und gereinigt, Dächer gedeckt und ausgebessert, Galeriefenster und Glasfassaden wie die des Ufa-Palastes geputzt, Wespennester gerettet, Bäume ausgeästet und vieles mehr.
Auf einen Einsatz wie jenen im Foyer des Ufa-Palastes bereiten sich die Kletterer zwei Wochen lang vor. Tägliches Training gehört dazu. Das findet zum Beispiel in Südfrankreich statt. „Urlaub ist das nicht“, sagt Team-Chef Andre Hüller. „Wir stehen morgens sieben Uhr auf und trainieren den ganzen Tag.“
Kann man da noch von Traumjob sprechen? Tobias Passek nickt. „Auf jeden Fall.“ Seit zwei Monaten ist er dabei. Begonnen hat alles mit einem Praktikum.
Er ist der Richtige, dachte Andre Hüller, als Tobias eines Tages in seinem Büro stand. An schwindelfreien Bewerbern mangelte es noch nie, doch die wenigsten erfüllen die Voraussetzungen für diese anstrengende Arbeit. Tobias hat wache Augen. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. Er hat einen Gesellenbrief als Dachdecker. Das Wichtigste: Er klettert seit seinem fünften Lebensjahr. Jedes Wochenende verbringt er in der Sächsischen Schweiz. Inzwischen schafft er eine Acht. „Wenn ich gut drauf bin“, sagt er. Die Zahl kennzeichnet den Schwierigkeitsgrad der Kletterwege. Zum Vergleich: Es gibt insgesamt zwölf. Ab Stufe sieben wird zusätzlich in A, B oder C unterteilt. Wer wie Tobias Passek 8er-Gipfel erklimmen will, muss mindestens zweimal pro Woche trainieren.
Jetzt ist sein Job sein Training. Stieg er früher bequem von einem Gerüst auf die Dächer, seilt er sich heute vom Dachfirst ab. „Wenn jemand behauptet, er habe keine Angst, dann stimmt das nicht“, sagt er. „Ein flaues Gefühl ist da immer.“
Die Arbeit der Bergsteiger ist organisiert wie eine Klettertour. Jeder sollte alles können. „Die Firma darf schließlich nicht den Bach runter gehen, nur weil der Chef mal nicht da ist“, sagt Geschäftsführer Andre Hüller. Für Tobias, der bisher nicht viel Zeit für Computer übrig hatte, hieß das, den Umgang mit Word, Excel und dem Internet zu vertiefen, zu lernen, wie man ein Angebot erstellt, kalkuliert und mit Kunden verhandelt und die eigene Arbeit auf einem Formular dokumentiert. Step bei Step wie in den Bergen. Im Probehalbjahr steht vor allem der Teamgeist auf dem Prüfstand. Bergsteiger müssen sich unbedingt aufeinander verlassen können. „Egoismus würde hier sofort scheitern“, sagt Tobias.
Text: Kathrin Schrader; Fotos: DiBaB