Orthoptist (m/w/d)
Augenblick mal …
Der Beruf des Orthoptisten ist meist nur Insidern bekannt, dabei ist er anspruchsvoll und vielseitig
Die Patientin hatte vor einigen Monaten einen Verkehrsunfall. Danach funktionierten ihre Augen nicht mehr richtig. Sie sieht alles doppelt. Das Schleudertrauma hat die Augen aus der Balance gebracht. Die Orthoptistin Sonja Schubert ermittelt den Winkel der Fehlstellung. Das sieht aus wie eine Untersuchung beim Optiker. Doch genau dort, wo Optiker mit ihrer Kunst nicht weiterkommen, beginnt die Arbeit der Orthoptisten. Sie sind Experten für Fehlstellungen der Augen und Sehstörungen bei Erwachsenen, vor allem aber bei Kindern, deren Untersuchung besondere Fertigkeiten und Hilfsmittel erfordert. Denn kleine Kinder können ja noch keine Buchstaben lesen und auch nicht so präzise wie ein Erwachsener sagen, ob das Bild, das sie gerade sehen, schärfer oder unschärfer als das vorherige ist.
Die Spielzeuge, die aus der Brusttasche von Sonja Schuberts Kittel herausschauen, verraten, dass sie junge und sehr junge Patienten erwartet. Mit ihrem freundlichen Gesicht und den großen Augen könnte man sie auch für eine Märchenerzählerin halten. Im Sprechzimmer hängen bunte Plakate. Es gibt sogar ein „Puppentheater“, allerdings erfüllt es den gegenteiligen Zweck. Statt, dass sich die Bühne für eine spannende Geschichte öffnet, wird sie mit einem schwarz-weiß-gestreiften Brett verschlossen, hinter dem die Orthoptistin verschwindet. Nichts soll den Blick der Kinder ablenken. Das ist der Sinn des Kastens. Sonja Schubert beobachtet durch ein kleines Guckloch in dem gemusterten Brett, wie der Blick der Kinder wohin wandert. Für ihre Diagnose ist das wichtig. In den Augenprüfungen arbeitet sie mit Symbolen und kleinen Bildern. Und immer muss sie die Kinder bei Laune halten, manchmal beruhigen.
In der Augenklinik am Charité Campus Virchow-Klinikum in Berlin, wo Sonja arbeitet, werden Fehlstellungen der Augen operativ korrigiert. Die Orthoptistin liefert dem operierenden Arzt die wichtigen Untersuchungs-Ergebnisse. Sie ist deshalb in den Besprechungen des OP-Teams unverzichtbar.
Nach der Schule absolvierte Sonja an einem Oberstufenzentrum ein Fachabitur in Gesundheit und Soziales. Anschließend bewarb sie sich bei einer Augenärztin und begann eine dreijährige Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten. In der Praxis der Augenärztin gab es eine Sehschule. So wird die Sprechstunde der Orthoptisten genannt, weil es in diesem Beruf ursprünglich darum ging, schielende Augen zur richtigen Zusammenarbeit zu trainieren. Heute geht es in erster Linie um Diagnostik. Sonja hatte Lust auf die Schule, im doppelten Sinne. Die Ausbildung zur Orthoptistin dauerte noch einmal drei Jahre. Es gibt Fachschulen für Orthoptik in vielen Städten. Sie sind jeweils Universitäts-Augenkliniken angegliedert. Neuerdings gibt es auch Bachelor- und Master-Studiengänge.
Sonja entschied sich für die Fachschule in Hamburg. Sie finanzierte die Ausbildung, die nicht vergütet wird, mit Bafög, dem Kindergeld und ging arbeiten. Im Unterricht geht es weitgehend um Krankheitsbilder und ihre Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. „Gleich im ersten Semester durften wir an die Patienten ran“, erzählt Sonja. Auch einer Operation hat sie in der Ausbildung zugesehen. Die meisten, die sich für die Ausbildung zum Orthoptisten entscheiden, haben vorher eine verwandte Ausbildung gemacht, als Medizinische Fachangestellte wie Sonja oder als Optiker. Das liegt aber nur daran, dass der Beruf so wenig bekannt ist. Sonja ist jetzt 26 Jahre alt. Die abwechslungsreiche Arbeit in der Klinik gefällt ihr. „Das Beste ist die Dankbarkeit der Patienten“, sagt sie. „Die Erleichterung, wenn jemand nicht mehr doppelt sieht und nicht mehr schielt.“ Als Voraussetzung für den Beruf nennt sie Einfühlungsvermögen und „die Kompetenz und den Wunsch, wirklich helfen zu wollen.“
Text & Fotos: Kathrin Schrader