Soziologe (m/w/d), Studium
Die Lust an der Theorie
Soziologen sollten gute Beobachter sein und bereit, sich zum Denken und Lesen zurückzuziehen
Mona Motakef sitzt entspannt an einem Eichentisch in der Mitte eines großen Zimmers, die Beine übereinandergelegt, linker Stiefel auf dem rechten Knie, die Finger in den Taschen ihrer Jeans. Diese unkomplizierte, junge Frau scheint zufällig in die altehrwürdige Villa geraten zu sein, deren Dielen noch hier und da den Duft längst verrauchter Zigarren speichern.
Als die 32-Jährige erzählt, wie sie Soziologin wurde, klingt auch das, als sei vieles auf ihrem Lebensweg bis hierher, in das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung, zufällig und unbeabsichtigt geschehen. Nach dem Abi hat sie sich nicht vorstellen können, wie das ist, zu studieren. Sie verbrachte zunächst ein Freiwilligenjahr in Frankreich. Zwar hatte sie eine Vorstellung davon, welche Arbeit ihr Spaß machen könnte, doch konnte sie sich für keines der angebotenen Studienfächer entscheiden. Die Pressearbeit für eine NGO, wie Amnesty International, wollte sie machen, seit sie dort mal ein Schülerpraktikum absolviert hatte. Politik hat sie schon damals interessiert, internationale Beziehungen, der interkulturelle Dialog.
Schließlich entschied sie sich, nach Oldenburg zu gehen. Die Uni dort bot das Studienfach Interkulturelle Pädagogik an. Mona fand aber heraus, dass sie mit Pädagogik nichts anfangen kann und konzentrierte sich auf die Sozialwissenschaften. Ohne Begeisterung. Aber dann gab es einige Aha-Effekte durch Vorlesungen und Bücher. „Nachdem ich ,Die Erfindung der Nation’ von Benedict Anderson gelesen hatte, begann mich die Frage zu beschäftigen, wie Macht funktioniert und wie es kommt, dass wir bereit sind, bestimmte Dinge zu tun und für ,normal’ halten“, sagt sie. Es folgte die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Theorien, die diese Fragen zu beantworten suchen. Als studentische Hilfskraft traf Mona andere Forscher. „Wir trafen uns nachmittags um drei und diskutierten bis abends um zehn Texte. Ich fand das eine tolle Sache. Zum ersten Mal konnte ich mir vorstellen, etwas anderes als Pressearbeit für Amnesty International zu machen.“
Es ist also doch kein Zufall, dass die Frau mit den großen, nachdenklichen Augen hier in der alten Villa angekommen ist, sondern das Ergebnis einer langen, unnachgiebigen Suche.
Seit 2009 arbeitet Mona in einer Gruppe von jungen Wissenschaftlern, die herausfinden wollen, ob Paare, bei denen sowohl der Mann als auch die Frau an ihrer beruflichen Karriere arbeiten, die traditionellen Mann-Frau-Rollen überwunden haben. Traditionelle Rollen legen den Mann auf das Geldverdienen fest, die Frau auf Kindererziehung und Haushalt. Die Forscher suchten geeignete Paare und führten über einen längeren Zeitraum hinweg Interviews mit ihnen. Diese werten sie nun aus. Jetzt hat Mona auch ihre Doktorarbeit zum Thema Organspende abgeschlossen und verteidigt. Ihr Ziel ist eine wissenschaftliche Karriere.
Organspenden, die Beziehungen von Mann und Frau, die Frage nach der Nation, das klingt vielseitig. Ist es auch. Denn die Soziologie beschäftigt sich mit allen Fragen des Menschen in der Gesellschaft. Doch Vorsicht vor falschen Erwartungen! Ein Wissenschaftler ist häufig allein mit seinen Büchern und seinen Gedanken. Wer Soziologie studiert, sollte Spaß am Denken haben. Er sollte dringend an den gesellschaftlichen Debatten interessiert sein und niemals aufhören, Fragen zu stellen. „Ein Schüler kann gar nicht wissen, was Soziologie ist“, sagt Mona. „Es ist kein klares Fach wie Jura, Medizin oder Lehramt. Andererseits sind die Sozialwissenschaften so vielseitig, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass es jemanden gibt, der darin überhaupt nichts findet, was ihn fesselt.“
Text & Foto: Kathrin Schrader